I Nur ein Traum

Grüne, hügelige Wiesen erstreckten sich bis zum Horizont, nur ab und zu von einigen größeren Steinen und kleinen, krüppeligen Bäumen unterbrochen. In weiter Ferne stand ein kleines, windschiefes Haus, auf dessen Dach einige Steine lagen und Gras wuchs.

Einige alte, verwitterte Grabkreuze standen hinter dem Haus, von diesem teilweise verdeckt. Der alte, an einigen Stellen morsche und schon eingebrochene Zaun zog sich ums Haus und schien sich eher an diesem anzulehnen, als Schutz zu gewähren.

In endlose Weiten schienen auch die Töne des alten Hirtenliedes, das von der Landschaft, dem freien Leben und der Arbeit mit den Schafen erzählte, zu entschweben.. Der Gesang schien jede Kontur des hohen Landes nachzuzeichnen, jede Nuance des Untergrundes. Das hohe Gras wogte im Takt‚ der starke Wind war abgeflaut. Als das Lied verklang, war es sekundenlang still. Die Natur lauschte der noch über die Hügel fliehenden Melodie. Erst dann blies der Wind stärker, der Salzgeruch der nahen Küste wurde unverkennbar stärker. Es roch nach Tang und Meer, nach Freiheit und Abenteuer und nach Sturm, hier, wo Stürme keine Seltenheit sind. Der herbe Geruch des Todes kam von der See, als die Wellen gegen den Strand schlugen. Das Krächzen der Möwen schrillte klagend über die Insel. Die Grashalme, die vom stärker werdenden Wind aneinandergerieben wurden, erzeugten ein immer stärker werdendes Rauschen. Er öffnete die Augen und sah geradewegs in den blauen Himmel. Langsam schweiften seine Blicke über das Land, über das von jeder Böe in Intervallen über die Hügel wogende Gras, blieb einige Momente an dem kleinen Haus hängen, bevor er zur See hinüberblickte. Einige Möwen segelten am Himmel, die See war aufgewühlt und in der Ferne zeigten sich erste dunkele Wolken am klaren Horizont.

Sean!

Er drehte sich langam um und blickte in die Augen seiner Verlobten, die windzerzaust, aber strahlenden Auges vor ihm stand.

Er trat einen Schritt auf sie zu, streckte seinen Arm aus, umfaßte ihre

Taille und zwei Augenpaare blickten gemeinsam über das Land.

Sean atmete tief ein- und ein Lächeln lag um seinen Mund.

***

„Hölle und Teufel!“ schrie der Sergeant durch den Gefechtslärm. Tagelang schon standen die Stellungen der englischen Truppen unter Trommelfeuer. 

Neben ihm warf sich ein Soldat auf den Grund des Schützengrabens. Dann robbte er auf den Sergeant zu und hielt ihm mit schlammbeschmierten und zitternden Fingern einen Brief vors Gesicht. Der Sergeant nahm den Brief, riß ungeduldig den Umschlag auf und über­flog die Zeilen. Er wollte gerade zum Reden ansetzen, als eine ganze Salve von Granaten in der Nähe der schon aufgerissenen Erde krepierte. Wieder wurden zentnerweise Dreck, Schlamm, Sand und Steine in die Luft geschleudert, und schütteten den Schützengraben zu.

Als der Sergeant sich aus dem Sand gewühlt hatte, war die Hälfte von den Männern tot. Einige waren von Sandmassen zerdrückt, andere von Steinen und Gesteinssplittern aufgerissen. Zwei Granaten waren in den Laufgraben geflogen und explodiert, Schwerverwundete schrieen ihren Schmerz in die von Explosionsgeräuschen und Maschinengewehrsalven angeschwängerte Dämmerung.

Der junge Soldat, der dem Sergeant die Nachricht brachte, lag mit zerschmetterten Gliedern im Schützengraben und starrte mit leeren, teilnahmslosen Augen in den immer wieder von Mündungsfeuern erhellten Abend.

Der Sergeant spuckte den Schlamm aus, den er im Mund hatte und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht, aber er bemerkte nicht, daß der Handrücken von blutigem Sandschlamm bedeckt war, als er die Hand zurückzog.

„Wir gehen zurück Rückzug! Rückzug!“ schrie er in den Geschützdonner. Unweit von ihnen rissen Granaten von neuem die lockere Erde auf.

„Nehmt die Verletzten und dann weg! Schnell! Beeilt euch!“

Sein Blick glitt über die Lebenden und Verletzten, über die Toten und. Verstümmelten.

War er seinem Schicksal schon abgestumpft gegenübergetreten, mit dem sicheren Tod vor Augen, so schlug jetzt sein Herz hart und heftig, als die Hoffnung des Überlebens in ihm aufkam. Und sein Herz schlug immer schneller, da die Vorbereitungen ihm viel, viel zu langsam anmuteten.

Als endlich alles zum Aufbruch gerüstet war, sah er noch einmal hin zu den Toten, dann zu den Lebenden, hob die Hand. und wollte das langersehnte ‘Los!‘ rufen, da stutzte er.

„Dempsey! Wo ist Dempsey?“

Die Frage des Sergeant setzte sich in der Reihe fort, und einer rief:

„Der ist doch noch bei den Maschinengewehren!“

„Ach, du Sch... !“,der Sergeant. drehte sich um, hob seinen Kopf erneut aus dem Graben und sah in Richtung Front.

Granattrichter an Granattrichter reihte sich aneinander, nur hier und da ein verkohlter Baum. In der Ferne sah man es in rhythmischen Abständen aufblitzen- das Mündungsfeuer der gegnerischen Artillerie. Rauch und Nebel zogen in Schwaden über das Schlachtfeld, und dämpften die Geräusche- das schwache Donnern der Kanonen, das Heulen der Granaten, die Explosionen, die Schreie und das Stöhnen der Sterbenden und das— ‘Taktaktak‘ eines Maschinengewehres.

Obwohl der Sergeant die Augen anstrengte, konnte er den Stacheldrahtverhau, hinter dem einige Sandsäcke ein Maschinengewehr und seinen Schützen decken sollte, nicht erkennen.

Er drehte sich um, deutete seinen Männern, daß sie sich fertig machen sollten und rief:

„Geht los, ich versuche Dempsey zu finden.“

„Aber der ist doch bestimmt schon tot. Komm mit ... !“

„Haut ab!“ schrie der Sergeant den Soldaten an und sprang aus dem Graben.

Es war mittlerweile fast ganz dunkel geworden. Der Sergeant sprang von einem Granattrichter in den anderen, nützte jeden Baumstumpf zur Deckung und hoffte inständig, daß es die Richtung nicht verfehlen würde. Er stolperte über das Schlachtfeld, blieb an Toten und Ausrüstungsgegenständen hängen, fiel in blutigen Schlamm und auf zerrissene, zerfetzte Körper. Endlich vermeinte er etwas zu sehen, lief darauf zu und fiel in die Grube mit dem Maschinengewehr. Atemholend lehnte er sich an den Rand und blickte auf den straffen Rücken des Schützen.

„Sean!“ rief er, wieder zu Atem kommend, den Schützen Dempsey bei dessen Vornamen.

Der drehte sich langsam um, trat einen Schritt auf ihn zu, streckte seinen Arm aus- und knickte in den Knien ein. Der Sergeant warf sich nach vorn und fing den Körper seines Sohnes auf. Doch er spürte sofort, daß er einen Toten in den Armen hielt. Er ließ ihn sanft zu Boden gleiten und sah schmerzerfüllt in das junge Gesicht.

Die Augen des Toten blickten melancholisch in weite Ferne- und ein Lächeln lag um seinen Mund.