Der Affe und der Vogel

Es war einmal ein Gibbon, der lebte im Urwald, flitzte akrobatisch durch die Äste und hatte Nahrung und Freunde im Überfluß.

Eines Tages, als der Gibbon auf einem hohen Baum ganz oben saß und sich genüßlich in der warmen Sonne räkelte, kam ein Vogel geflogen, umkreiste ihn ein paar mal und ließ sich in seiner Nähe nieder.

„Sag‘ mal, bist du eigentlich nicht unglücklich?“ fragte der Vogel.

„Nein“ antwortete der Gibbon und spuckte in hohem Bogen einen Kirschkern aus.

„Aber wolltest du noch niemals ein Vogel sein?“ fragte der Vogel weiter.

„Nein.“ antwortete der Gibbon wieder, als er sich am linken Ohr kratzte.

„Aber ich sage dir, nur als Vogel kennt man das richtige Leben. Man fliegt hoch über die Wolken und kann die klare Luft des Himmels atmen.- Und sieh dagegen dich an. Lebst hier zwischen stickigen Bäumen, engen Ästen und deinen verlausten Freunden. Du bist doch hier völlig fehl am Platze. Komm, mach‘s wie ich, werd‘ Vogel!“

„Du meinst also, mein jetziges Dasein sei völlig verpfuscht.“ sprach der Affe, und als der Vogel bestätigend nickte, sprach er weiter:

„Und nur wenn ich ein Vogel würde, wäre ich wirklich am Leben?“

„Unbedingt.“ beteuerte der Vogel und spreitzte bestätigend die Flügel.

„Siehst du die Ananas‘ da unten auf dem Boden?“ fragte der Gibbon und wies auf einen Punkt schräg unter ihm. Der Vogel bejahte.

„ Nun, wenn es wirklich besser ist, ein Vogel zu sein, dann überzeuge mich davon. Laß uns einen Wettkampf machen. Gewinnst du, so gebe ich zu‚ daß man als Vogel besser durch die Welt kommt, und tue alles, was du mir sagst.“

„Und wenn nicht?“ fragte der Vogel.

„Bleibe ich so, wie ich bin.“ schmatzte der Affe.

Der Vogel, der sehr von sich überzeugt war, ging auf die Wette ein. Es ging, wie leicht zu erraten war darum, wer als schnellster bei den Ananas‘ war und eine von ihnen als erster wieder zu den Baumwipfeln brachte.

Kaum war der Start, da ließ sich der Gibbon fallen, flutschte elegant durch die Aste, schnappte sich eine der Früchte und sauste geschwind in die Baumkrone zurück.

Als der Vogel viel später völlig zerzaust wieder aus dem Geäst auftauchte, lachte der Affe vergnügt und rief ihm zu:

„Laß gut sein, mein Freund! Mir scheint, auch wenn ich kein Vogel bin, komme ich ganz gut zurecht.“

* * *

Aber der Vogel gab nicht auf.

Uber Wochen und Monate redete er auf den Affen ein, vermieste ihm die Freunde, sprach abfällig über den Wald und pries nur das Vogelleben in höchsten Tönen.

Am Anfang hörte der Affe nicht auf den Vogel, aber so ganz allmählich begannen Zweifel in ihm aufzusteigen. Als das der Vogel merkte‚ bestärkte er die Zweifel. Und dann glaubte auch der Affe, daß man nur als Vogel das wahre Leben kenne.

Er wollte jetzt auch ein Vogel sein und fragte, was er tuen solle. Dieser aber verlangte, daß der Affe ihm vorher diene, bevor er den Rat gäbe.

Von da an ließ sich der Vogel nur noch in der Sonne und ließ sich vom Affen verwöhnen, Früchte und Würmer bringen, Wasser heranschleppen und Insekten fangen. War es zu kalt, mußte der Affe ihn wärmen, war es zu warm, mußte der Affe ihm Kühlung verschaffen.

Und immer fragte der Affe, was er tun müsse‚ um ein Vogel zu werden.

Aber der Vogel hatte es mit seinem Rat auf einmal gar nicht mehr so eilig, sondern vertröstete ihn auf später.

Aber dann, nach vielen, vielen Tagen und nach vielen, vielen Nachfragen des Affen sagte der Vogel: 

„Bau dir Flügel und dann bist du ein Vogel.“

Der Affe tat wie ihm geheißen, und bald stiegen beide auf einen hohen Berg,um schon mal näher bei den anderen Vögeln zu sein. Der Affe hatte sich aus Blättern und Zweigen zwei Flügel gebastelt, die er krampfhaft in den Händen hielt.                

Auf einem Felevorsprung, unter ihnen die gähnende Tiefe, sagte der Vogel noch einmal zu dem Affen:

„Also, wenn du gesprungen bist, mußt du mit den Flügeln schlagen, so bist du ein Vogel.“

Dann sprangen beide nach vorn. Aber während sich der Vogel mühelos erhob und davonflog, kam es für den Affen, wie es kommen mußte. Er sauste senkrecht wie ein Stein in die Tiefe und klatschte mit einen lauten ‘Platsch‘ auf den Boden.

Armer Affe!